„Perla“ von Carolina de Robertis ist ein in Argentinien angesiedelter Roman, der die
Identitätssuche einer jungen Frau in Buenos Aires mit der politischen
Geschichte des Landes in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts
verbindet.

Inhalt: Perla wächst als einzige Tochter eines
Marineoffiziers und seiner Frau in Buenos Aires auf. Obwohl Perla schon
in jungen Jahren ahnt, dass ihr Vater während der Militärdiktatur
schlimmes getan hat, möglicherweise sogar mitverantwortlich an dem
Verschwinden tausender Menschen war, liebt sie ihre Eltern. Sie hat
gelernt, über die Geschichte ihrer Familie in dem mittlerweile zur
Demokratie zurückgekehrten Land zu schweigen. Erst im Studentenalter,
als ihre Eltern verreist sind, bringt ein unbekannter Mann, der
plötzlich mitten in ihrem Wohnzimmer auftaucht, nackt und nass, als wäre
er gerade dem Wasser entstiegen, sie dazu, sich mit der Vergangenheit
ihrer Familie zu beschäftigen, auch wenn das heißt, dass sie ihre eigene
Identität hinterfragen muss.
Am Anfang war ich noch fasziniert
von „Perla“. Der Mann in ihrem Wohnzimmer ist schwer zu verstehen. Wer
ist er, woher kommt er? Ist er real oder ein Produkt Perlas Phantasie?
Lebendig oder ein zurückgekehrter Toter? Er selbst kann diese Fragen
kaum beantworten, seine Erinnerungen fügen sich erst nach und nach
wieder zusammen, in einem Prozess, den die Autorin mit vielen
philosophischen Schleifen ausschmückt. Diese Monologe, die die
Geschichte des Mannes erzählen, waren oft langwierig, schöne Worte,
denen aber leider immer häufiger die Aussage fehlte. Doch sie waren
nicht das erste Langwierige in diesem Roman. Auch Perla selbst, die als
Ich-Erzählerin auftritt, führt solche Monologe. Lange, lange Abschnitte
an Gedankengängen, die nur selten zum Kern vordringen und diesen auch
klar formulieren.
Während der Hang der Autorin zum Vagen beim
rätselhaften Fremden, der nass und verwirrt auf dem Wohnzimmerteppich
liegt, noch einen gewissen stilistischen Sinn ergibt, wollte er mir bei
Perla, einer jungen Studentin, die in Unterhaltungen mit anderen immer
wieder unter Beweis stellt, dass sie sehr wohl zu klaren Gedankengängen
in der Lage ist, einfach nicht natürlich erscheinen. Die Dialoge, die
klaren Momente, darin habe ich die eigentlich Stärke des Romans
empfunden, die vagen Passagen dazwischen wirkten dagegen ein wenig
gezwungen: Ein Stil, der keinen anderen Zweck verfolgte, als den Leser
mit schönen, aber schwammigen Worten, noch ein wenig davon abzuhalten,
die ganze Geschichte zu verstehen und die weitere Entwicklung
vorausahnen zu können. Und daran scheitert sie.
Denn, während ich
mich zunächst mühsam von Seite zu Seite quälte, versuchte aus Perlas
Gedanken die politische Vergangenheit, die Rolle ihrer Eltern und die
Verbindung zu den Verschwundenen herauszufiltern und mich eigentlich nur
für den geheimnisvollen Mann, nicht aber für den Umgang der
Ich-Erzählerin mit ihm, begeistern konnte, wurde es spätestens nach der
Hälfte des Buches einfach sehr offensichtlich. Perlas Identitätssuche
scheint für den Leser bereits beendet, bevor sie selbst sie begonnen
hat.
Perla selbst braucht noch eine Weile, scheint ohnehin eher
eine passive Rolle in ihrem eigenen Leben eingenommen zu haben. Wäre sie
ein stärkerer Charakter, vielleicht hätte die Geschichte überzeugen
können. Doch das ist sie nicht. Unsicherheit, die durch die
Vergangenheit ihres Vaters noch verständlich ist, begleitet sie, doch
was nicht mehr zu verstehen war, war ihr Umgang mit dem Fremden. Ist er
real oder entspringt er ihrer Phantasie? Sollte sie das nicht verwirren,
zutiefst berühren? In gewisser Weise ist das sogar der Fall und dennoch
hatte ich den Eindruck, als wäre Perla zu oft die unbeteiligte
Beobachterin, ein leerer Charakter, der Konfrontationen und
Entscheidungen scheut, Gedanken nicht ausspricht und zum Davonlaufen
neigt. Sie lässt sich von dem Mann zur Wahrheit führen, nach der sie
selbst sich nicht einmal zu suchen getraut hat. Doch ihr Charakter
entwickelt sich kaum.

Vielleicht hatte er dazu aber auch nie die
Möglichkeit, denn der Roman war mir am Ende einfach zu glatt, zu
vorhersehbar. Eigentlich war es sogar so vorhersehbar, dass eine kleine
Stimme in meinem Kopf sich doch immer wieder geweigert hat, den glatten
Ausgang zu akzeptieren und stattdessen unerschütterlich an eine Wendung
geglaubt hat, die Perlas Identitätssuche, bei der mir so vieles nach
unterbewusstem Wunsch und Phantasievorstellung klang, nicht zuletzt auch
durch den Fremden, der so wenig real schien, noch einmal auf den Kopf
stellen würde. Die sie dazu zwingen würde, doch noch einmal die
Konfrontation mit ihren Eltern zu suchen, da Perla ihre Liebe für sie
und ihre Vergangenheit als Teil der Militärdiktatur moralisch nicht ein
Einklang bringen kann.
Stattdessen ist eine andere Identität, die sie
von der Tochter des Täters zum Opfer macht und von der ihr ein lebender
Toter auf dem Teppichboden ihres Wohnzimmers erzählt, die Lösung? Da ich
niemanden um die Erfahrung bringen möchte, die Geschichte selbst zu
erlesen, kann ich es deutlicher nicht ausdrücken, doch das Ende war für
meinen Geschmack schwach und zu reibungslos.
Die real-politischen
Hintergründe des Romans, die Geschichte Argentiniens, die Geschichte
der Verschwundenen, sind einer der lesenswerten Bestandteile von
„Perla“. Teilweise sind die eingearbeiteten Verweise und die erdachten
Einzelschicksale schwer zu verdauen, auch Perlas Geschichte ist nicht
leicht zu verarbeiten, auch wenn sie mir am Ende für sie persönlich zu
einfach erschien. Nicht „einfach“ im Sinne von „leicht“, es ist kein
leichtes Schicksal, sondern „einfach“ im Sinne von „konfliktarm“, da es
Perla eine Möglichkeit bot, einer Identität, die sie innerlich zerriss,
zu entkommen. Es konnte zwar berühren, aber es war dennoch zu
vorhersehbar und zu wendungsarm.
Fazit: Schöner Schreibstil,
schöne Worte, aber leider oft verpackt in zu langwierige Gedankengänge.
Der Protagonistin Perla selbst fehlt die Entwicklung, dem Ende fehlt der
Konflikt. Es ist mehr Märchen als Realität, wodurch die Identitätssuche
vor dem Hintergrund einer politischen Ausnahmesituation ihre Tiefe
einbüßt.
Eine Empfehlung: Wer an einer gelungeneren Geschichte
über die Suche nach der eigenen Identität interessiert ist, dem möchte
ich das ebenfalls in diesem Frühjahr erschienene
„Hier könnte ich zur Welt kommen“ von Marjorie Celona empfehlen (meine
Rezension). Hier fehlt zwar der große
politische Hintergrund von „Perla“, die persönliche Entwicklung ist aber
deutlich stärker.

Allgemeine Informationen
Ausgabe: Gebunden, März 2013
Seiten: 336
englischer Originaltitel:
Perla
ISBN: 978-3810508539
Preis: € [D] 18.99