Das perfekte Leben?
"Die
Unvollendete" von Kate Atkinson ist ein Roman mit einer interessanten
Idee: Was wäre, wenn man sein Leben immer wieder leben könnte? Wenn man
jede Entscheidung im nächsten Versuch zurücknehmen könnte, wenn man
jedes Mal eine Kleinigkeit verändern könnte? Wäre das Leben irgendwann
perfekt?
11. Februar 1910. Ursula Todd wird als drittes Kind einer
wohlhabenden englischen Familie geboren. Vor ihr liegen jedoch nicht nur
eine behütete Kindheit und unendlich viele Möglichkeiten, sondern auch
zwei Weltkriege. Welchen Weg soll sie einschlagen? Studieren oder nicht?
Heiraten oder nicht? Für Ursula ist keine Entscheidung endgültig, denn
sie wird ihr Leben immer wieder von vorn beginnen und die Fehler
korrigieren. Doch wie viel kann sie überhaupt beeinflussen? Kann sie
glücklich werden und ihre Familie vor jedem Leid bewahren?
"Die Unvollendete" heißt im englischen Original "Life after Life".
Beide Titel beschreiben auf verschiedene Weise wunderbar, worum es hier
geht: Ursula Todd lebt ein Leben nach dem anderen. Doch es ist nicht der
klassische Gedanke der Wiedergeburt, der hier greift, denn Ursula kehrt
nicht in neuer Gestalt in einer zukünftigen Zeit zurück, sondern
wiederholt ihr eigenes Leben wieder und wieder. Immer geboren in einer
verschneiten Februarnacht 1910 in England, als Tochter von Sylvie und
ihrem Mann Hugh, mit zwei älteren Geschwistern. Mit jeder Rückkehr
bekommt sie eine neue Chance andere Entscheidungen zu treffen und Fehler
zu beheben, zunächst eher intuitiv, doch mit jedem Leben wächst die
Wahrnehmung für ihre Gabe. Sie verändert ihr Leben mit jeder
Wiedergeburt, ist sozusagen "unvollendet", ständig versucht, ihr Leben
zu perfektionieren. Manchmal brauchen schon kleine Veränderungen mehrere
Versuche - manchmal erfordern sie rabiate Maßnahmen - und manchmal
verändert eine einzige Entscheidung das gesamte Leben. Wie weit Ursula
diese Perfektionierung treiben kann, ist eine der großen Fragen, welche
die Autorin dem Leser durch ihre Geschichte stellt. Ist ein perfektes
Leben für Ursula möglich?
"Es wurde dunkel" ist wahrscheinlich der häufigste Satz im ganzen
Roman. In der Regel leitet er einen Sprung in die Vergangenheit ein -
ein weiteres Leben für Ursula. Was wird sie dieses Mal anders machen,
was hat sie schon anders gemacht? Nicht immer begleitet der Leser Ursula
von Geburt an, manchmal muss er große Veränderungen nach großen
Zeitsprüngen hinnehmen. "Die Unvollendete" ist dadurch kein Buch für ein
kurzes, oberflächliches Lesevergnügen. Der Leser braucht seine gesamte
Aufmerksamkeit, um Ursulas Entwicklung nicht aus den Augen zu verlieren.
Gerade im späteren Mittelteil wird das schwierig. Ursulas
Erwachsenenleben wird durch Kleinigkeiten von einem Leben zum Nächsten
oft völlig auf den Kopf gestellt. Mal wünscht man ihr das Glück in einem
Leben, dann ist man schockiert von den Tragödien und wünscht sich das
nächste herbei. Ursulas Leben begleiten die Weltkriege. Den ersten
erlebt sie noch recht behütet im Kindesalter, der zweite involviert sie
bis zum Äußersten und prägt ihre Leben durch viel Leid, Tod und
Traurigkeit.
Nicht immer ist es einfach, sich auf jedes neue Leben einzulassen,
die großen Veränderungen lassen die Zahl der Nebenfiguren auch mit der
Zeit ein wenig unübersichtlich werden und durch eine gewisse
Detailverliebtheit der Autorin bleibt der Roman leider auch nicht ohne
Längen. Allerdings lohnt es sich, konzentriert bei der Sache zu bleiben,
denn der Facettenreichtum eines einzelnen Lebens, wie ihn sich die
Autorin für Ursula erdacht hat, ist spannend und beeindruckend. Und
ebenso beeindruckend ist es, wie sich am Ende die Erfahrungen
verschiedener Leben verbinden und einen runden Abschluss bilden, der
tief berührt. Die große Stärke des Romans ist es tatsächlich um eine
einzelne Figur schier unendliche Möglichkeiten zu entwickeln und immer
wieder aufs Neue die Frage zu beantworten, wo es Ursula hingeführt
hätte, wenn sie einmal eine andere Abzweigung genommen hätte. Was sind
ihre Konstanten, was kann sie beeinflussen, wohin führt ihr Charakter
sie immer wieder zurück?
Sprachlich ist "Die Unvollendete" durchaus anspruchsvoll, aber
wunderbar zu lesen. Es vermittelt einen authentischen Eindruck der
Handlungszeit und lebt nicht zuletzt auch von der starken Protagonistin,
deren Persönlichkeit sich immer neu entfaltet und daran wächst. Die
Autorin hat ein Händchen für die Details, aber auch für den mal
subtilen, mal etwas schwarzen Humor. Dennoch war es das ein oder andere
Mal ermüdend, Wiederholungen in Ursulas Leben zu lesen oder ihr neuestes
Leid mit zu verfolgen. Dennoch ist vor allem das Ende unglaublich stark
und entschädigt für jedes Durchhaltevermögen.
Fazit: Der Roman „Die Unvollendete“ setzt die Frage nach dem „Was
wäre, wenn?“ großartig um, indem er seine Protagonistin ihr Leben immer
wiederholen und korrigieren lässt. Die Autorin präsentiert eine
unerwartete Vielfalt an Möglichkeiten für das Leben von Ursula Todd.
Einige Längen im Mittelteil wurden nicht vermieden, doch ein
ausdrucksstarkes Ende entschädigt. Sehr gute 4 Sterne für diesen Roman
mit Tiefgang.
Allgemeine Informationen
Ausgabe: Gebunden, Sept. 2013
Seiten: 592
Verlag: Droemer
Originaltitel: Life after Life
ISBN: 978-3426199817
Preis: € [D] 19.99
Leseprobe und weitere Informationen auf der Verlagshomepage
Vielen Dank für die Vorstellung, das Buch hat mich bei vorablesn auch schon angelächelt und das Gedankenspiel mit dem "Was wäre wenn" finde ich sehr ansprechend. Und wenn das Ende so stark ist, kann ich auch über Wiederholungen hinwegsehen :-)
AntwortenLöschenDas klingt nach einem Buch, das mir sehr gut gefallen könnte. Ich habe schon mal davon gehört, aber deine Rezension hat mich überzeugt. Danke!
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