Mittwoch, 10. Juli 2013

Rezension zu "Das Mädchen aus dem Meer" von Rebecca Hohlbein



Zwei Welten in einem Boot

„Das Mädchen aus dem Meer“ von Rebecca Hohlbein ist ein Fantasyroman, der mir durch sein schlichtes, aber sehr wirkungsstarkes Cover direkt ins Auge gesprungen ist. Von der Autorin selbst habe ich bis auf dieses noch kein Buch gelesen, sie war mir als Tochter von Wolfgang Hohlbein, von dem ich in meiner frühen Jugend sicher eine zweistellige Zahl an Büchern verschlungen habe, aber natürlich ein Begriff. Dennoch, während des Lesens, stellte ich schnell fest, dass das Buch sich vollkommen anders entwickelte, als ich dem Klappentext nach erwartet hatte. Möglicherweise hat es mir dadurch umso besser gefallen…

Zunächst einige Worte zum Inhalt: Froh ist ein junger Fischer, der sein kleines Boot vor Tagen schon aufs offene Meer hinaus gesteuert hatte, ohne die Absicht jemals nach Hause zurückzukehren. Er versucht durch seine Tortur Vergebung bei den Göttern zu finden, denn er fürchtet, sie gegen sich aufgebracht zu haben.
Eines Tages fischt er ein Mädchen aus dem Wasser, ein Mädchen mit so goldenem Haar, wie er es noch nie gesehen hat. Er hält sie für eine Göttin, doch Chita, so heißt das Mädchen, behauptet, dass es seine Götter gar nicht gibt und beginnt, ihm ihre Geschichte zu erzählen: Von einem Kontinent namens Cypria und ihrem Leben als Tochter eines Herrschers…


Schon durch das allgemeine Setting weicht „Das Mädchen aus dem Meer“ von der üblichen Norm der Fantasyromane ab. Wir befinden uns fast ausschließlich auf offener See, die Handlung entwickelt sich aus hauptsächlich aus Chitas Erzählungen, gelegentlich wird auch Frohs Vergangenheit zum Thema. Warum ist er mit seinem kleinen Boot hinaus gepaddelt? Und wie ist Chita dort hingekommen? Was hat es mit der großen Welle auf sich, von der sie erzählt, kann Froh ihr überhaupt glauben? Denn das, was sie erzählt, klingt in seinen Ohren doch recht abenteuerlich – vielleicht hat die vermeintliche Göttin eine blühende Phantasie. Oder haben die Götter Chita zu ihm geschickt, als Teil seiner Strafe?
Der gesamte Roman lebt neben einer sehr komplexen Hintergrundgeschichte von dieser Dynamik zwischen Chita und Froh – von zwei Welten, die aufeinander treffen und vieles in Frage zu stellen.

Dass Froh sich gelegentlich fragt, ob Chita zu ertragen nicht vielleicht tatsächlich zu der Strafe gehört, die er von den Göttern erwartet, wundert auch den Leser mit der Zeit nicht mehr. Chita ist nicht gerade mit Taktgefühl ausgestattet. Nicht nur, dass sie Froh unentwegt als „Primitiven“ bezeichnet, sie zerstört mit ihrer Geschichte auch ganz ohne Samthandschuhe sein gesamtes Weltbild. Doch gleichzeitig ist Chita einfach Teil ihrer Welt – was für Froh und den Leser grausam oder unmoralisch erscheint, ist für sie nicht ungewöhnlich. Außerdem ist sie noch jung und auf der Suche nach ihren Wertvorstellungen.

Chita ist ein verwöhntes, überhebliches, naives Mädchen, das zudem über beide Ohren verliebt ist. Sie erzählt von ihrer Kindheit als Tochter eines der Herrscher von Cypria, und davon, wie sie nach und nach die grausamen Seiten ihres Vaters und des gesamten Landes kennen lernte, wie sie begann nachzudenken und zu hinterfragen. Dabei übertreibt sie gerne, präsentiert sich mal bockig und gelegentlich sehr rachsüchtig, wobei sie sich natürlich grundsätzlich im Recht sieht - kurz: Sie ist unfreiwillig komisch. Die verwöhnte Tochter aus gutem Hause nimmt man ihr direkt ab und dennoch spürt man auch ihren guten Kern. Ein ganz starker Charakter, den ich einerseits schnell ins Herz schloss, dessen Ecken und Kanten aber gelegentlich auch dazu führten, dass ich Mitleid mit Froh hatte. Immerhin war er gefangen mit ihr in einem kleinen Boot auf offener See – ohne Fluchtmöglichkeiten, um ihrem teilweise etwas unverständlich und unzusammenhängend wirkenden Geplapper zu entkommen.

Allerdings führt die außergewöhnliche Perspektive dieses Romans auch dazu, dass der Leser oft an Frohs Stelle tritt. Wenn Chita erzählt, werden ganze Kapitel zu Monologen, nur unterbrochen von gelegentlichen Zwischenfragen Frohs, die Chita entweder daran erinnern, gewisse Dinge näher auszuführen, oder sie auf den Boden zurückholen, wenn sie sich in eine Sache hineinsteigert, übertreibt, offensichtlich zu sehr ausschmückt oder vielleicht auch ein kleines Bisschen lügt. So stellt Froh also genau die Fragen, die auch der Leser in diesem Moment im Kopf hat, und Chita, die diese Fragen aufnimmt und ansonsten ohne Unterbrechungen in der Ich-Perspektive erzählt, scheint direkt mit dem Leser zu sprechen. So entstehen zwei Handlungsstränge – Gegenwart und Vergangenheit – und der Leser ist immer mittendrin. Ein ungewöhnlicher Aufbau, der mich allerdings direkt in seinen Bann zog. Ein außerordentlich guter, recht anspruchsvoller Schreibstil rundet das Bild ab.

Die Handlung selbst ist komplex. Sie durch Chitas eher egozentrische Sichtweise zu erschließen erfordert Aufmerksamkeit. Insgesamt ist „Das Mädchen aus dem Meer“ tiefgründiger und nachdenklicher als ich es beim Fantasy-Genre erwartet hätte. Vieles erinnert an reale, gegenwärtige oder historische, Konflikte. Durch Chitas eigenwillige Erzählweise lockert sich diese Nachdenklichkeit gelegentlich und auch diese Diskrepanz zwischen Inhalt und der kindlich-naiven, teilweise oberflächlichen Erzählerin mit fragwürdiger Moral bereichert den Roman.
Das Ende ging mir ein wenig schnell – mein einziger Kritikpunkt an einen ansonsten überraschenden Roman mit unerwarteter Tiefe. Dennoch brachte es noch einmal eine Wendung und neue Sichtweisen mit sich. Besonders schön: Beide Figuren, Chita und Froh, lernen voneinander und entwickeln sich.

Fazit: „Das Mädchen aus dem Meer“ ist ein ungewöhnlicher Fantasyroman. Ein einsames, ungleiches Paar auf offener See, umgeben von einer tiefgründigen, komplexen Handlung, wie ich sie ursprünglich gar nicht erwartet hätte. Wer sich auf diese außergewöhnliche Idee und den schwierigen Charakter Chitas einlassen kann, wird nicht enttäuscht werden. 5 Sterne
 
 
Allgemeine Informationen

Ausgabe: Klappenbroschur
Seiten: 512
Verlag: Heyne
ISBN: 978-3-453-31481-8
Preis: € [D] 14.99

Leseprobe und weitere Informationen auf der Verlagshomepage
 

4 Kommentare:

  1. Danke für diese Rezi - habe das Buch auf meine Liste gesetzt!

    AntwortenLöschen
  2. Habe ja gerade schon auf FB geschrieben, dass mir das Buch überhaupt nicht zugeseagt hat und ich froh bin, dass Geschmäcker unterschiedlich sind.
    Deine Rezi finde ich aber dennoch sehr gelungen.

    Alles Liebe, Sophie

    AntwortenLöschen
  3. Ich finde die Rezension sehr gut und da es schon auf meiner Wunschliste ist, bleibt es jetzt auch dort, da ich schon recht unterschiedliche Bewertungen gesehen habe.

    Vielleicht schaust du, wenn du Lust hast, mal bei mir vorbei? :)
    http://good-books-never-end.blogspot.de/

    Alles Liebe, Jule

    AntwortenLöschen
  4. Danke für die tolle Rezension! Das Cover sieht total toll aus und hab das Buch direkt auf meine Wunschliste gesetzt :)

    AntwortenLöschen