Sonntag, 5. August 2012

Rezension zu "Vollendet" von Neal Shusterman


Weiterleben in Einzelteilen?

"Vollendet" von Neal Shusterman ist für mich eine der Überraschungen auf dem Jugendbuch-Markt 2012. Eine erstklassige Dystopie, die zum Nachdenken anregt.

Inhalt: Nordamerika in nicht allzu ferner Zukunft. Nachdem Abtreibungsbefürworter und -gegner in den USA einen erbitterten Bürgerkrieg geführt haben, wurde die "Charta des Lebens" verabschiedet. Diese erklärt das Leben von der Zeugung bis zum 13. Geburtstag eines Kindes für unantastbar - doch danach können Eltern ihre Kinder "umwandeln" lassen, bis sie 18 sind. "Umwandeln", das bedeutet das Kind in ein sogenanntes "Ernte-Camp" zu bringen, wo sein gesamter Körper zur Organspende auseinander genommen wird. Was wie Mord klingt, wird harmlos erklärt: Wenn jeder Teil des Körpers einem Empfänger zukommt, lebt das Kind dort weiter...auf nützliche Weise.

Connor, Risa und Lev sind drei solcher "Wandler". Connor ist ein rebellischer Teenager, mit dem seine Eltern überfordert sind. Als er erfährt, dass seine Eltern ihn umwandeln lassen wollen, beschließt er zu fliehen.
Risa ist ein Mündel des Staates. Sie ist talentiert und intelligent, aber keine richtige Überfliegerin. Da die Heime voll sind, fällt sie den Kürzungen zum Opfer und soll umgewandelt werden. Nur durch einen Zufall kann sie auf dem Weg zum Ernte-Camp fliehen.
Lev feiert gerade seinen 13. Geburtstag. Für ihn ist die Umwandlung selbstverständlich, denn seine hochreligiöse Familie besteht auf das Zehntopfer und Lev ist das zehnte Kind der Familie. Er weiß schon sein ganzes Leben, dass er geopfert werden soll. Eigentlich hat er sich sogar darauf gefreut, aber als es so weit ist, kommen ihm Zweifel...


Der Autor erzählt seine Geschichte aus vielen verschiedenen Perspektiven, mit einem Schwerpunkt auf den drei Jugendlichen, die vor dem System fliehen. Diese drei Charaktere sind sehr unterschiedlich. Connor ist impulsiv und unberechenbar. Erst durch Risa und ihre kluge, bedachte Art lernt er, sich zu beherrschen. Lev kämpft mit sich. Sein Leben lang wurde er indoktriniert und auf seine Rolle als Zehntopfer vorbereitet. Die drei ergeben auf der Flucht eine bunt gemischte Truppe, die sich trennt, wieder zusammen findet und teilweise extreme Wege beschreitet.

Offiziell ist das System akzeptiert, doch auf ihrer Reise finden die Jugendlichen auch viel Unterstützung, lernen aber auch gruselige Geschichten kennen, wie die von Humphrey Dunfee, dessen Eltern seine Umwandlung so bereut haben, dass sie die Empfänger seiner Körperteile nun überall suchen, um ihn wieder zusammenzusetzen. Der Autor fasst seine Leser dabei nicht gerade mit Samthandschuhen an. Er schreibt in einem eher nüchternen Stil, beobachtend und berichtend, und lässt keine schockierenden Details aus. Seine Schilderungen ließen es mir so manches Mal kalt den Rücken herunterlaufen lassen. Der so unbeteiligt wirkende Schreibstil trägt sein Übriges zu der schrecklichen, aber auch fesselnden und mitreißenden Atmosphäre dieses Buches bei. Man muss es vielleicht zwischendurch mal zur Seite legen, um durchzuatmen, aber lange werden diese Pausen dank der hohen Spannung nicht dauern.

Zudem lässt der Autor tiefgehende Diskussionen aufkommen: Ist die Umwandlung Mord? Ist das System ohne Abtreibung besser für die ungewollten Kinder? Wie viel von dem ursprünglichen Menschen lebt in seinen gespendeten Körperteilen weiter, bleiben seine Erinnerungen bestehen? So schafft der Autor nicht nur einen Roman zur Unterhaltung, sondern gibt seinen Lesern auch tatsächlich etwas zum Nachdenken mit auf den Weg.

Ein kleiner Schwachpunkt ist für mich das Ende der Geschichte. Auf der einen Seite ist es passend. Die Entwicklung der Charaktere ist glaubhaft, der Schluss verschafft etwas Erleichterung, ist aber kein zu überzogenes Happy End, das einfach nicht zu dieser düsteren Handlung gepasst hätte. Trotzdem war es mir teilweise - wenn auch eher in einer Nebenhandlung - zu amerikanisch, zu pathetisch und einfach ein wenig zu kitschig. Das ist vielleicht Geschmackssache, mir war es jedoch deutlich zuviel und mit etwas fragwürdigen Signalen.
Allerdings war es für mich insgesamt ein erstklassiger Einzelband mit - bis auf die kleine Ausnahme - zufriedenstellendem Ende. Dass es eine Fortsetzung geben wird, habe ich erst im Nachhinein erfahren. Das englische Original dieser Fortsetzung erscheint Ende August 2012 unter dem Titel  "UnWholly".

Fazit: Eine sehr packende Dystopie mit sehr schockierenden Elementen. Nichts für schwache Nerven, dafür mit reichlich Tiefgang. Gut geschrieben, spannend zu lesen. Klare Leseempfehlung. 5 Sterne

  
Die Reihe (mit Links zu Amazon.de):
  1. "Vollendet" (August 2012, englischer Originaltitel: "Unwind")
  2. noch nicht bekannt (englischer Originaltitel: "UnWholly")
  3. noch nicht bekannt
Allgemeine Informationen

Ausgabe: Gebunden, August 2012
 Seiten: 432
Verlag: Sauerländer
ISBN: 978-3411809929
Preis: € [D]16.99

Leseprobe und weitere Informationen auf der Verlagshomepage

1 Kommentar:

  1. Hallo Sarah,

    die Unwind-Dystologie ist super. Ich kann Dir die anderen Bücher, so Du sie nicht bereits gelesen hast, nur wärmstens empfehlen. In meinem Blog findest Du auch die Rezis dazu, falls es Dich interessiert. Neal Shusterman schreibt wirklich unglaublich fesselnd.

    Liebe Grüße
    Jay von "Bücher wie Sterne"

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